Ein ganz europäisches Wochenende

Von Laura Nunziante (veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

 

Akki Moto empfängt mich am Bahnhof Lauenburg an der Elbe. Ein Ort, von dem ich noch nie in meinem Leben gehört habe, obwohl ich selbst aus dem Norden stamme, aber so wie man uns nachsagt, sind wir eben ein Menschenschlag, der nicht weiter über den Horizont schaut, als das nächstanliegende Schiff im Hafen.

 

Sei es drum, denn es ist ein schönes Städtchen, in das ich hier geraten bin. Heute Abend soll ich Teil einer Live-Kunst-Performance werden; ein Mix aus Lesung, Fotovortrag, Musik und Schnapsverkostung. Jetzt aber stehe ich hier, vor der alten Hitzler-Werft und schlendere dann mit Akki durch die Altstadt, die wie ein Fischerdorf anmutet nebst rotem Backstein, grün gestrichenen Fensterläden und einem Kopfsteinpflaster, auf dem mein Trolley sich quietschend abrackert.

Akki ist Berater und einige Jahre älter als ich. Das Fotografieren hat er sich selbst angeeignet, er schießt wie ein Profi, und das gibt er in Fotokursen an seine Lehrlinge weiter. So will er mir auch eines seiner Projekte durch seine Bilder näherbringen. „Ich will alle Länder in Europa kennenlernen“, verkündet er während unserer Fotoshow, die wir in der Ehemaligen Ratsapotheke abhalten. „Und sie dazu noch verstehen!“ Er erzählt von seinem eindrücklichen Besuch in Moldawien, wo die Brunnen stets am Grundstücksrand gebaut werden, damit das Wasser allen, auch Reisenden, zugänglich ist. Er erzählt davon, wie die Gespräche mit anderen Menschen seinen Horizont erweitert haben und das Reisen an sich seinen Blick auf den Kontinent veränderten. „Das würde auch manchem Brexiteer gut tun, nicht wahr?“, sagt er.  Etwa die Hälfte aller Länder des Kontinents – zu denen er auch abtrünnige Gebiete wie Transnistrien, oder in eigener Staatsräson „Pridnestrowien“, zählt – hat er schon bereist. Das Projekt ist noch lange nicht am Ende.

 

Ich halte mich da lieber an Schnaps, an die Völkerverständigung durch das Brauchtum des Feierns, und doch bin ich beeindruckt, dass das Verständnis für Europa eben nicht nur in meiner Generation gilt, sondern auch in der Älteren.

 

„Du musst dich mit der Hanse beschäftigen, sie ist sozusagen der Vorläufer des Projekt Europas“, erklärt Akki mir beim Mittagessen in einem kleinen Restaurant. Wir schauen durch das Fenster auf die Elbe und nehmen Matjes mit Kartoffeln zu uns. „1161 wurde zwischen den Hansestädten unter Heinrich des Löwen schon Handel betrieben.“

 

Ich fühle mich an die Europäische Montanunion erinnert, die 1952 den geheimen Besitz von Streitwaffen der Länder unterbinden sollte, und zwischen den sechs Gründungsmitgliedern Frieden schaffen. Mit der EWG , die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957, die den Handel untereinander vereinfachen sollte, folgte dann das Nachfolgeprojekt. Ich denke an die Jahrhunderte der politischen Zusammenarbeit, die vor der EU und letztlich dem Frieden des geografischen Europa liegen, wie wir es heute kennen und an die vielen kleinen europäischen Geschichten, die historisch nicht aufgenommen werden konnten – und jeden Tag vor unseren Augen passieren.

Jetzt aber soll es an die Lesung gehen. Wir performen diesen Abend im GnaSteiner's,  das ist eine urige Rockkneipe, die mittlerweile überregional bekannt ist und schon am frühen Abend gut besucht wird. „Steini“ begrüßt mich mit einem Handschlag, „Claudi“ stellt sich in weiblicher Bescheidenheit zwar nur als Putzfrau vor, aber ich sehe es ihr schon am Blick an: Sie ist diejenige, die den Laden im Hintergrund schmeißt.

 

Und doch beweist sich Steini als umtriebiger Entertainer am Mikrofon, er weiß, was die Leute verlangen. So verteilt er den Schnaps aus verschiedenen europäischen Ländern gekonnt, während ich vor dem durstigen Publikum lese und Akki seine Anekdoten aus Transnistrien, Frankreich, Schweden und England zum Besten gibt. Dass es dabei oft um Steuern und Gesetze geht, stört die Menschen im GnaSteiner's nicht, solange der Alkohol fließt, solange jeder an diesem lauenburgischen Abend einen europäischen Trinkspruch noch fehlerfrei aufsagen kann. Jens und Adam heizen mit Abba und Dschinghis Khan musikalisch ein, während Stefan aus Köln den Text dazugibt. „Skalotzki“, rufe ich meinen selbst erfundenen europäischen Trinkspruch in die Menge und fühle mich wohl aufgehoben unter meinen europäischen Freunden, ja ich glaube wieder daran, dass dieses Europa nicht verloren ist. 

„Denn wer handelt, bekämpft sich nicht“, zitiert Akki eine alte, europäische Wahrheit, von der ich nicht geglaubt hätte, dass ich diese in diesem Kaff an der Elbe einmal hören würde. Ich muss mich damit abfinden, dass es nicht nur die Großstädte sind, die von diesem Europa etwas halten, sondern die Ortschaften und Städtchen, die neben Rom, London und Wien diesen Kontinent zu dem machen, was er ist.

 

Das Wochenende ist vorbei, mein Kopf voll von alten Geschichten, neu gefundenen Bekanntschaften und einem mir heftig aufsteigenden Kater. Ich verabschiede mich von Akki, der stellvertretend steht für alle Europäer, die den Glauben an diesen Kontinent noch nicht verloren haben. Und die mich mit ihrer norddeutschen, aber keinesfalls unterkühlten Herzlichkeit wieder überzeugt haben, dass eine Reise durch Europa sich immer lohnt. Und wenn es nur für einen Schnaps im GnaSteiner's ist. 

Anders ist das mit meiner Erinnerung. Da scheint einiges verloren, ich versuche am nächsten Morgen Menschen und Alkoholika zu rekonstruieren und bin dankbar, dass die Lauenburger so herzlich und aufgeschlossen sind, dass sie mich sicher und anständig ins Bett brachten, mich zu später Stunde mit Wasser versorgten – und mir teils viel weltoffener daherkamen, als Berlin und Hamburg zusammen. 

Akki hatte eine ruhigere Nacht als ich. Er steht gut gelaunt in der Ehemaligen Ratsapotheke, während ich hineinstürme, um seinen Wasservorrat aufzusaufen. Sogleich machen wir einen Streifzug durch die Lauenburger Altstadt, ich erfahre im Elbschifffahrtsmuseum von dem Fest der Schipperhöge und der Figur der „Lustigen Person“, die im Volksmund auch „Hans Wurst“ genannt wird, aber eher aussieht, als hätte sie jegliche Foltermethoden des Mittelalters erfunden. Es geht weiter nach Schnakenbek (ja, so heißt das!), wo ich am Elbufer genauer über das Artlenburger Privileg, der erste innereuropäische Freihandel zwischen Lübeck und Gotland, aufgeklärt werde. So entdecke ich auch die Schönheit Schleswig-Holsteins, während wir am Ufer stehen, der Wind leise durch das Schilf streicht und die Elbe sich fast geräuschlos wiegt.

 

Zuletzt zeigt Akki mir die Alte Salzstraße. Eine Handelsstraße, die zwischen Lübeck und Hamburg vor Hunderten von Jahren den Handel von Salz gewährleistete. Hier finden wir noch ein kurzes Stück mittelalterlichen Kopfsteinpflasters und ich gehe ein wenig darauf spazieren, um den Geist dieser Zeit einzuatmen. Es liegt nun die mehr als tausendjährige, europäische Geschichte vor mir, der Handel von hier aus in den Ostraum war besonders wichtig für die Hansestädte dieser Gegend und begründeten letztlich auch den Frieden der Völker. 

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